Mittwoch, 14 Uhr in Ettenheim, Südbaden. 36 Schüler der Realschule „Heimschule St. Landolin“ sitzen gespannt auf den Stühlen und schauen auf die Projektionswand. Nach einem Klick am Computer auf den Button „Join Meeting“ sind gleichsam drei Personen mehr im Raum. „Hallo! Schön, euch wieder zu sehen, wie geht es euch?“ klingt es von der anderen Seite des Atlantiks herüber in die Ortenau. Die Stimmen aus dem Lautsprecher und die eingeblendeten Gesichter sind den Schülern vertraut, denn die drei amerikanischen Dirigier-Professoren unterrichten die Klasse nicht zum ersten Mal.

Ein Bericht von Christoph Breithack

Seit Beginn des Schuljahrs 2014/15 läuft in der Bläserklasse der Jahrgangsstufe 8 ein Kooperationsprojekt, in dessen Rahmen schon mehrere Online Tele-Unterrichtsstunden stattgefunden haben, und im Dezember waren Prof. Dr. John D. Pasquale und Prof. Dr. Andrea Brown (beide University of Michigan) sowie Prof. Dr. David Clemmer (Eastern Kentucky University) für einen Tag in Ettenheim und haben die Schüler persönlich kennengelernt. Was folgt, sind 60 Minuten höchst konzentrierten Arbeitens in einer Bläserklassenstunde, in der die Dirigenten aus Übersee wegen eines kleinen Zeitversatzes in der Bild- und Tonübertragung zwar nicht selbst dirigieren können, aber durch die Stunde führen und ansagen, welche Stellen der Musikstücke gespielt werden sollen. Als Musiklehrer im Klassenzimmer agiere ich sozusagen als ihr verlängerter Arm und dirigiere das Orchester. Dabei hat der Unterricht an vielen Stellen eher den Charakter von Instrumentalunterricht als den einer Orchesterprobe. „Es klingt, als stehe die Zunge der Saxophonspieler zu hoch im Mund, so als würden sie ‚daa‘ sagen. Es müsste eher so sein, als sagten sie ‚duu‘, damit die Zunge weiter unten im Mund liegt.“ Den Professoren, die an ihren Schreibtischen in Michigan und Kentucky sitzen, entgeht kein Detail, obwohl sie über 6 000 Kilometer entfernt sind.

Die Schüler haben sich zu Beginn des Schuljahres entschieden, einmal pro Monat zusätzlichen Unterricht am Nachmittag bei den Amerikanern zu haben. Wegen der Zeitverschiebung wäre dieses einmalige Kooperationsprojekt mit amerikanischen Profimusikern sonst nicht möglich – und das alles noch in der Fremdsprache. Doch von Stunde zu Stunde gewöhnen sich die Schüler mehr an die Erläuterungen auf Englisch und verstehen die neuen Lehrer besser. Wenn etwas nicht verstanden wird, weil musikalische Fachbegriffe auf Englisch enthalten sind, übersetze ich sinngemäß. Bei den Professoren scheint das Repertoire an Wissen und Erfahrung über die Instrumente und über Orchester-Probetechniken unerschöpflich. Gearbeitet wird an grundlegenden Instrumental- und Orchesterkompetenzen. Was dabei für die Schüler sowie für mich als Musiklehrer beeindruckend ist, sind einerseits das große Detailwissen zur Unterrichtsmethodik für jedes einzelne Orchesterinstrument und andererseits die ausgefeilte methodische Systematik, mit der die Inhalte des Bläserklassenunterrichts vermittelt werden. Alle Inhalte, begonnen beim Spüren eines gemeinsamen Pulses, dem Zählen des Rhythmus’, klaren Tonanfängen und -enden, gutem Klang etc. bauen logisch aufeinander auf, nichts bleibt dem Zufall überlassen, und mit jedem Schritt klingt das Orchester hörbar eine Stufe besser. Kein Zweifel – hier sind absolute Spezialisten im Klassenzimmer anwesend. Tatsächlich gehören die Dirigenten aus Amerika zu den Besten ihres Fachs. Und sie hören ganz genau zu. Kaum ist in Ettenheim ein neuer Abschnitt musiziert, kommt die Stimme aus dem Lautsprecher: „Während ihr gespielt habt, haben David und ich uns im Chat unterhalten: Wir merken sofort, wenn jemand seinen Hör-Level verlässt. Dann fallen gleich einzelne Stimmen aus dem Gesamtklang heraus.“ Die stets konstruktive Kritik ist auf Englisch, aber für die Schüler unmissverständlich. Also noch einmal mit maximaler Konzentration. Und das um kurz vor 15 Uhr. Am Ende sind alle mit dem tollen Ergebnis hoch zufrieden.

Was machen die Amerikaner anders als Dirigenten in deutschen Orchestern? Der Hauptunterschied besteht wohl darin, dass sie die Arbeit mit der Bläserklasse nicht als Probe, sondern als Unterricht auffassen und dass sie ihre Rolle folglich vor allem als Lehrer für Orchester und weniger als Dirigent im klassischen Sinn verstehen. Dabei geht es einerseits darum, dass die Schüler individuell an ihrem Instrument besser werden, andererseits geht es aber auch stets um den Fortschritt der ganzen Gruppe. Alle Kompetenzen werden, einer aufbauenden Systematik folgend, schülergerecht und anschaulich vermittelt. Beispielsweise kommt nicht einfach der Hinweis „hört besser aufeinander, wenn ihr spielt“, sondern die Ansage lautet: „Bitte spielt in Hör-Level 1.“ Zu Beginn des Projekts war solch eine Ansage noch ungewöhnlich. Von verschiedenen Hör-Leveln, also Stufen des Zuhörens, hatten die Schüler bisher noch nichts gehört. Doch mittlerweile weiß jeder, dass er bei dieser Ansage bewusst nur auf sich selbst achten und auf das eigene Spiel hören soll. „Und jetzt bitte Hör-Level 2.“ Nun soll ein klanglich homogenes Trio mit den beiden Nebensitzern gebildet werden, in dem alle Aspekte des Musizierens übereinstimmen: Anstoß, Lautstärke, Klangfarbe, Tonqualität… – jeder weiß genau, worauf er hören und achten soll. Bei aller Systematik und Anschaulichkeit haben die Profis aus Amerika einen kompromisslos hohen Anspruch. Ihr Ziel ist musikalische Perfektion, auch im Schülerorchester. Deshalb folgt selbstverständlich „Hör Level 3“, in dem die Trios in klangliche Relation zu den anderen Gruppen im Orchester gebracht werden.

Neben dem Hören gibt es viele andere Bereiche, die beim Musizieren zu beachten sind und die in vergleichbar anschaulicher Weise vermittelt werden. Puls, Rhythmus, Zählen, Anstoß, Artikulation, Balance, musikalischer Ausdruck – kein Aspekt wird ausgelassen. Wie gut diese Art der Vermittlung funktioniert, lässt sich aus der folgenden Äußerung einer Schülerin in einer schriftlichen Reflexion des Unterrichts ablesen: „Wir sangen die Takte auf unserer Silbe. Jedes Instrument hat eine eigene Silbe. Danach spielten wir die Stelle so, wie sie in den Noten stand. Es war sehr beeindruckend, denn es hat auf Anhieb geklappt und sehr schön und klar geklungen.“ In den Tagen nach einer solchen Unterrichtsstunde folgt stets eine einstündige Nachbesprechung des internationalen Lehrerteams. Hier reflektieren wir die Unterrichtsstunde und besprechen die jetzt anstehenden Unterrichtsschritte bis zum nächsten gemeinsamen Online-Termin. Dabei legen wir sinnvolle Übungen und inhaltliche Schwerpunkte fest, die Grundlage meiner Unterrichtsplanung für die nächsten Stunden sind. Für die beteiligten Dozenten und mich als Lehrer ist diese Kooperation deshalb wie eine große Langzeitfortbildung.

Die Wirkung des Projekts auf die Schüler bringen die folgenden Zitate aus schriftlichen Reflexionen zum Ausdruck: „Was ich sehr bemerkenswert finde ist, dass wir mit den Dirigenten über Tausende von Kilometern kommunizieren können. Wir bekommen viele neue und hilfreiche Tipps. Ich finde, dass wir uns alle sehr verbessert haben.“ Eine andere Schülerin schrieb: „Durch die Proben mit den Amerikanern habe ich sehr viel dazu gelernt. Denn zu Hause zähle ich die Noten bzw. die Stücke jetzt öfters oder singe laut dazu. Das Spielen mit dem Instrument fällt mir danach leichter. Im Orchester hört seither jeder viel besser auf den anderen. Man wird auch selbstbewusster.“

Der Kontakt zu Dr. John Pasquale kam zustande, als ich im Dezember 2012 eine jährlich in Chicago stattfindende Fortbildung für Orchesterunterricht, die Midwest Clinic International Band, Orchestra and Music Conference (www.midwestclinic.org) besuchte. Bei einem Gespräch wurde der Plan gefasst, solch ein Projekt auch im transatlantischen Rahmen zu versuchen. Nach entsprechendem Planungsvorlauf holte Dr. Pasquale seine Assistentin Dr. Andrea Brown und seinen Kollegen Dr. David Clemmer ins Dozententeam, das die Klasse nun zu dritt unterrichtet. Dabei soll dieses Projekt über Ettenheim hinaus dazu beitragen, eine Lücke im System der Schulmusik in Deutschland zu verkleinern: In den USA lernen Schüler seit über 70 Jahren in Bläser- oder Streicherklassen das Spielen von Musikinstrumenten. Das Ausbildungsangebot für angehende Musiklehrer an den Hochschulen ist – anders als bei uns in Deutschland – flächendeckend hierauf eingestellt, und die Studenten der Schulmusik werden als Bläser- und Streicherklassenlehrer ausgebildet. Zudem findet an den amerikanischen Musikhochschulen laufend Forschungs- und Weiterentwicklungsarbeit auf dem Gebiet des Klassenmusizierens statt. So haben sich über Jahrzehnte sehr viel Erfahrung sowie didaktisches und methodisches Wissen zum Instrumental- und Orchesterunterricht mit Schulklassen angesammelt. Besucht man einen Schulmusikkongress in Nordamerika, wird schnell klar, dass hier Didaktik und Methodik für Instrumental- und Orchesterunterricht auf einem Niveau vermittelt werden, wie man es in Deutschland aufgrund fehlender Tradition in diesem musikalischen Teilbereich nicht finden kann. Zu stark ist bei uns die Praxis des Einzelunterrichts beim Erlernen eines Musikinstruments verankert.

Als Musik- und Bläserklassenlehrer, als Dozent für Bläserklassenleitung und -didaktik bei Lehrerfortbildungen und als Dirigent liegt der spezielle Reiz an diesem Kooperationsprojekt für mich darin, die Erfahrung und das Wissen der Kollegen aus Nordamerika zum einen für die Schüler meiner Schule zugänglich zu machen, es aber auch bei anderen Bläserklassenlehrern und bei Dirigenten zu multiplizieren.

 


(Autor: Christoph Breithack | Erschienen in der Zeitschrift „blasmusik“ – Ausgabe Januar 2016 – Seiten 14 & 15)